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Tom Petty: Ganz oben, ganz unten

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Tom Petty: Ganz oben, ganz unten

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Um 1992 zweifelt Petty. Am Leben, an der Liebe, an der Karriere, an allem. Vieles, was bisher sicher schien, fängt an, brüchig zu werden. Seine Ehe mit Jane Benyo, mit der er seit 1974 verheiratet ist, steuert unaufhaltsam auf ihr Ende zu. Dazu kommt der Ärger mit den Heartbreakers, die noch immer nicht verdaut haben, dass er sie für sein Solodebüt links liegen gelassen hat. Und die sich vielleicht auch fragen, warum ihr Chef in den zurückliegenden Jahren mehr mit seinen Traveling-Wilburys-Kollegen Jeff Lynne, George Harrison, Roy Orbison und Bob Dylan anfangen konnte, als mit ihnen. Und dann sind auch noch die neuen Stücke nicht typisch Heartbreakers, wie sich bald herausstellen wird. Auf jeden Fall: Pop-Perfektionist Lynne ist nicht mehr der Richtige.

Stattdessen verpflichtet Petty einen älter aussehenden, aber noch nicht einmal 30-jährigen Produzenten, der sich bei ihm vorgestellt hat und der bis dahin vor allem in der HipHop- und Punk-Szene daheim war. Er heißt Rick Rubin und ist noch nicht lange Fan der Musik seines neuen Auftraggebers. Er mag eigentlich härtere Sachen. Aber ausgerechnet das mit Lynne aufgenommene FULL MOON FEVER hat ihn überzeugt. „Nach der zweiten oder dritten Single hab ich mir das Album gekauft und es ab da jeden Tag gehört. Ein Jahr lang war es die einzige CD, die ich in meinem Auto hatte“, erzählt Rubin 2017.

Die beiden mögen sich auf Anhieb und Petty spielt Rubin seine Song-Entwürfe vor, die er bei sich daheim mit akustischer Gitarre, Klavier und Drum-Machine aufgenommen hat. Es ist genug Material für mindestens zwei Studioplatten. Rubin revanchiert sich, indem er seinen Kompagnon mit den Beatles-Demos für das „Weiße Album“ bekannt macht. „Es traf mich wie der Blitz, wie stark die Lieder waren, und das nur mit ein paar akustischen Gitarren“, erinnert sich Petty Jahre später. Diesen einfachen, direkten, organischen Sound will er auch haben. Und sein neuer Kreativpartner ist dafür genau der Richtige. Im Juli 1992 geht es, zunächst nur zusammen mit Mike Campbell, in die Sound City Studios in Los Angeles, wo mehr als ein Jahrzehnt zuvor auch das rastlose Meisterwerk DAMN THE TORPEDOES entstanden war. WILDFLOWERS wird letztendlich zwar als einzelnes Album erscheinen, zu den Aufnahmen kommen nach Campbell aber nach und nach auch die restlichen Heartbreakers dazu – mit einer Ausnahme.

Stan Lynch ist ein begnadeter Rock-Drummer. Er hätte zur Not Monate im Studio verbracht, um Songs wie ›Refugee‹ oder ›The Waiting‹ den perfekten Punch zu verpassen. Im Zweifel hat er das auch getan.

Die introvertierten, ruhigen Stücke auf WILDFLOWERS aber liegen ihm von Anfang an nicht. „Ich passte nicht zur Musik, die sie machten. Und ich wusste nicht, wie ich hätte reinpassen sollen. Außerdem war ich zu alt und erfolgreich, um irgendwo reinpassen zu wollen“, sagt Lynch im „Runnin’ Down A Dream“-Film. Logisch, dass Petty diese Einstellung nicht passt. „Ich wollte nicht mehr mit Stan spielen und hab ihm das auch gesagt. Ich sagte ihm, dass er nicht das Gefühl für diese Musik hätte. Da war er wütend, und ich kann verstehen, warum.“ Aber damit gibt es ein Problem: Die Band steht auf einmal ohne Schlagzeuger da. Was tun? Auf die Schnelle lässt man zahlreiche Anwärter vorspielen: ohne Erfolg. Bis eines Tages der britische Drummer Steve Ferrone ins Studio spaziert. Er setzt sich hinters Schlagzeug und reißt den neuen Track ›You Don’t Know How It Feels‹ in einem Durchlauf runter, ohne Probe. Ferrone hat den Job. Weil Petty für WILDFLOWERS zu Warner wechselt, seinem alten Label MCA aber noch eine Greatest Hits mit zwei neuen Songs schuldet (›Something In The Air‹ und ›Mary Jane’s Last Dance‹), führt das zur kuriosen Situation, dass die Band gleichzeitig mit Ferrone am Schlagzeug in Sound City am neuen Album arbeitet und in den Ocean Way Studios, ebenfalls in Los Angeles, mit Lynch an der Greatest Hits.

Doch Letzterer ist da die längste Zeit ein Heartbreaker gewesen. Als Johnny Depp die Band 1993 einlädt, bei der Eröffnung seines neuen Clubs The Viper Room am Sunset Strip aufzutreten, sagt Lynch eiskalt ab. Er hat sich nach Florida abgeseilt. „Ich war außer mir“, so Petty. „Aber ich rief ihn an und sagte: ‚Stan, macht nichts, Ringo wird’s tun‘. Innerhalb der nächsten 24 Stunden war Stan wiederda, haha!“ Es ist das letzte Mal, dass die beiden zusammenfinden. Im Jahr darauf wird der längst meilenweit entfernte Lynch auch offiziell kein Teil der Gruppe mehr sein.

Die Arbeit an WILDFLOWERS geht derweil voran. Während bei Lynne alles „in time“ und „in tune“ sein musste, wie Rubin das nennt, „sehr kontrolliert und präzise und perfekt“, sucht er selbst nach einer Art „Hyperrealismus“. Was er damit meint: „den perfekt eingefangenen organischen Moment“. Dazu braucht es eine Band, und zwar eine, die zur selben Zeit am selben Ort ist und sich, wie man so sagt, blind versteht. „Rick wollte alle zusammen im Studio haben, uns live spielen lassen“, sagt Campbell. Petty kennt Campbell seit Mitte der 70er, Benmont Tench sogar schon von der Schulzeit her. Zuerst spielten alle drei zusammen bei Mudcrutch, dem Vorläufer der Heartbreakers. Mudcrutch bringen 1975 eine Single raus, ›Depot Street‹, lösen sich dann aber bald auf, weil der Erfolg ausbleibt (erst 2007 kehren sie zurück). Ihr Frontmann startet eine Sololaufbahn, doch schon bei seinem Debüt, TOM PETTY AND THE HEARTBREAKERS von 1976, sind Tench und Campbell wieder dabei. Und sie bleiben dabei, immer, spielen sogar beim Solowerk FULL MOON FEVER mit. Auf diese beiden ist Verlass, das weiß auch Rubin. Und auf seine typische Art, scheinbar ohne viel zu machen, kriegt er es hin, das Beste aus allen herauszuholen.

Jedenfalls haben die Heartbreakers nie davor und nie danach schöner zusammengespielt als auf WILDFLOWERS. Besonders Pettys Elan ist nicht zu bremsen. Er setzte sich hin und schrieb in fünf Minuten aus dem Stand einen Song mit der komplexesten Story, erinnert sich Rubin. „Ich frage ihn, worum es da gehe und was die Inspiration dahinter sei, und er sagt, er habe keine Ahnung. Er konnte Material auf unglaubliche Weise kanalisieren.“ Und ganz offensichtlich gibt es damals viel zu kanalisieren. WILDFLOWERS fängt an mit einem luftigen Folksong: dem in seiner Schönheit unschuldig wirkenden Titelstück. Es geht um selbstlose Liebe, um frühlingshaften Aufbruch, um Freiheit. „You belong among the wildflowers, … you belong somewhere you feel free“, tönt es zur akustischen Gitarre. Es holt einen federnd rein ins Album, aber gleich darauf schaut’s weniger gut aus.

›You Don’t Know How It Feels‹ ist die erfolgreichste Single der Platte. Der Protagonist darin ist zu allein, um an seinem Zustand noch irgendetwas cool zu finden. Er wacht auf und ist irgendwo zwischen Erinnerung und Traum. Er rollt sich einen Joint, dreht das Radio bis zum Anschlag auf: ein Ausweg ist es nicht. ›Time To Move On‹ erinnert mit seinen Synthesizern vielleicht ein bisschen an Springsteens ›I’m On Fire‹, und hier wie dort ist jemand getrieben, voller nervöser Spannung. Zuerst bestimmt das
Motiv des Aufbruchs den Song, da wirkt er noch optimistisch, selbst wenn es ein Aufbruch ins Ungewisse
ist. Aber in der dritten Strophe kippt das Ganze.

Der entschlossene Heartland-Rock von ›You Wreck Me‹ ist ein Aufbäumen, genauso der fiese Gitarrenrock von ›Honey Bee‹, das schleppende ›It’s Good To Be King‹ dann die Flucht in ein Traumland mit einer „sweet little queen“ darin, die nicht weglaufen kann. „Ich bin zu etwas Neuem durchgebrochen“, bemerkt Petty einmal. „Mein persönliches Leben krachte zusammen, es schleuderte mich eine Zeit lang echt aus der Bahn. Aber künstlerisch war ich während dieser Platte ganz oben.“

Als sie das Album zum ersten Mal hörte, habe sie sofort gewusst, dass die Ehe ihrer Eltern vorbei war, erklärt seine Tochter Adria später dem Biografen ihres Vaters. Am Telefon darauf angesprochen, nennt sie WILDFLOWERS einen „loveletter to a divorce“ und vergleicht es mit Neil Youngs HARVEST MOON. Gleichzeitig besteht sie darauf, dass es keine dunkle Platte ist, sondern dass sie etwas Ermutigendes, Aufbauendes, Liebevolles an sich hat. Und auch immer wieder ziemlich witzig ist.

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