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Rush: Wellenreiter

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Rush: Wellenreiter

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„PERMANENT WAVES dagegen war so positiv und machte so viel Spaß. Als Liveband hatten wir schon einiges erreicht, wir spielten vor größerem Publikum, das uns mehr unterstützte, und all das Touren machte uns zu besseren Musikern. Jeder von uns war glücklicher, und das zeigte sich darin, wie wir miteinander und den Menschen um uns herum umgingen. Das Leben machte Spaß und war aufregend.“ Zweifellos dank der guten Vorbereitung wurde PERMANENT WAVES verhältnismäßig schnell aufgenommen. „Innerhalb von sechs Wochen hatten wir die Platte praktisch im Kasten“, erinnert sich Lee. „Dann mischten wir sie bei Trident ab, denn die Arbeit war selbst bei HEMISPHERES eine Freude gewesen. Also flogen wir wieder nach London, der Abmischraum war magisch und selbst das Mixen ging sehr schnell. Man weiß nie, was passiert, wenn man eine Platte macht – man weiß nicht, ob es ein langwieriger Prozess wird oder ein angenehmer. Und PERMANENT WAVES war sehr angenehm.“ Die Band begann die Sessions mit dem Stück, das zum Album-Opener und Überraschungshit werden sollte, ›The Spirit Of Radio‹. Lee spricht freudig darüber, wie schnell der Song im Ferienhaus zustande kam, und als Opener könnte er kaum typischer für Rush sein – ein genial donnerndes Gitarrenriff, ein komplexes Arrangement, ein Schlagzeugmuster, dem man nur schwer folgen kann, und im Outro ein kleiner Reggae-Tupfer über einem Text, der die Kommerzialisierung des modernen Radios beklagt.

Ginge es in diesen Sätzen um irgendeine andere Band, würde man sich am Kopf kratzen. Doch in Bezug auf ein Stück von Rush ergeben sie absolut Sinn. Denn Rush ergeben eigentlich überhaupt keinen Sinn. Irgendwie gelingt es ihnen, Sachen zum Funktionieren zu bringen, die nicht funktionieren dürften. Und das traf nie mehr zu als bei PERMANENT WAVES. „Ich denke, wenn man sich unsere Geschichte ansieht“, so Lee, „dann ist ›Tom Sawyer‹ das Lied, das am bekanntesten ist und am meisten Aufmerksamkeit erhielt. Gefolgt von ›Spirit …‹ und ›Closer To The Heart‹. Das sind wahrscheinlich unsere drei größten Songs.“ „Ich glaube, wir begannen die Sessions mit ›The Spirit Of Radio‹, was mich begeisterte“, sagt Terry Brown. „Es war anders und ziemlich fordernd, doch als wir uns an die finalen Darbietungen herangetastet hatten, war offensichtlich, dass es etwas ganz Besonderes war. Ich würde nicht sagen, dass irgendeine unserer Sessions je leicht gewesen war – die Jungs hatten die Angewohnheit, sich mit jeder Platte neu herauszufordern. ›The Spirit Of Radio‹ ist jedenfalls ganz eindeutig schwer zu spielen und doch schafften sie es, es so leicht klingen zu lassen.“ „Dieser Song klang und fühlte sich so positiv an“, so Lifeson.

„Es war einer dieser Songs, die einen Moment in der Zeit einzufangen scheinen. Nicht, dass uns das in irgendeiner Weise bewusst gewesen wäre. Doch die Reaktionen darauf waren stark und wir waren sehr positiv überrascht davon. Man bedenke: ›Spirit …‹ war wirklich ein Statement darüber, wohin sich das Radio entwickelte und wo es gewesen war. Als ich Anfang der 70er aufwuchs, war das Radio so ein freies Forum für Musik. Da gab es DJs, die eine Stunde lang Zeug spielten. Sie sprachen über die Songs, es gab keine Werbung oder so. Es war komplett frei – eine Plattform, die damals die Musik neue Horizonte eröffnen ließ. Und dann bewegte es sich immer mehr hin zu Formaten und weg von dieser Freiheit. Es wurde reguliert, es ging immer mehr darum, die Sendezeit zu verkaufen. Darum geht es eigentlich in dem Stück. Wir wollten der Nummer einen Effekt der Statik verleihen – Radiowellen, die umher schlagen, sehr elektrisch. Wir hatten diese Sequenz als Hintergrund und versuchten dann, etwas zu finden, das darüber gelegt werden konnte und diese Bewegung erzeugte.“ ›The Spirit Of Radio‹ schaffte es auf beiden Seiten des Atlantik in die Charts und gab so einen Vorgeschmack – zumindest in Sachen Verkaufszahlen – auf PERMANENT WAVES und den kommerziellen Höhepunkt, der folgen sollte.

„Wir sind immer überrascht, wenn wir irgendwo einen Hit landen“, sagt Lifeson mit einem Lachen. „Wir waren nie wirklich eine Radioband. Doch ironischerweise ergab das Sinn.“ Es war nicht nur die Musik der Band, die mit PERMANENT WAVES neu gestaltet und bewertet wurde. Wer könnte das Artwork von HEMISPHERES vergessen: ein nackter Mann, der auf einem menschlichen Gehirn schwebt und auf einen eine Melone tragenden Gentleman wie aus einem Gemälde von Magritte niederstarrt, während beide sanft durch Zeit und Raum treiben? „Hugh Syme, langjähriger Art Director von Rush und Neil Pearts Kreativpartner, sagte: „Der Magritte-Mann mit Melone war mein alter Freund Bobby King, ebenfalls aus der Niagara-Region wie Neil und ich. Die andere Figur war ein Tänzer von der Toronto Ballet School, den wir gefunden hatten. Während meiner gesamten Arbeit mit Rush haben sie mir nicht ein einziges Mal ihre Ideen mitgeteilt“, fährt Syme fort. „Zum Beispiel bei HEMISPHERES. Ich hatte noch nicht mal irgendwelche Musik gehört, denn sie waren ja in Wales, um das Album zu machen. Danach wurde es etwas leichter, als sie anfingen, im Le Studio aufzunehmen. Ich konnte hinfliegen oder -fahren, um die Jungs bei der Arbeit zu besuchen, was wesentlich bequemer war. Meistens blieb ich etwa eine Woche und wurde manchmal auch eingeladen, auf ihren Platten zu spielen. Das hatte bei 2112 begonnen, wo ich bei ›Overture‹ und Geds ›Tears‹ ein bisschen Farbe beisteuern durfte.“

Bei einem dieser längeren Aufenthalte im Le Studio wurde Syme gebeten, auf ›Different Strings‹ Klavier zu spielen, noch so eine Überraschung im Rush-Katalog. Der Text kam diesmal von Lee und das Stück war wehklagend, aber üppig. Es behandelte die Art, in der ein Hörer oder Kritiker Kunst und Musik konsumiert. Dass die Nummer auf die Platte kam, deutete noch mehr an, wie sehr Rush nun willens waren, mit der Kunstform zu spielen und was für eine Art von Musik ihr Publikum von ihnen noch erwarten konnte. War ›Different Strings‹ denn kein einfaches, sehr aufrichtiges Liebeslied? „Nein, überhaupt nicht“, sagt Geddy. „Der Song entstand tatsächlich aus dieser Idee: Da waren wir, diese Band, die nun schon eine ganze Weile zusammen war, und wir hatten diese Fähigkeit, die Leute zu polarisieren, das konnte unsere Musik. Und in diesem Song bezog ich mich darauf, auf unsere Musik und die Kunst. Es geht wirklich um diese ganz individuelle Art, wie jeder darauf reagiert. Ob es Musik ist oder visuell oder was auch immer, die Reaktion darauf ist emotional. Es geht um Unterschiede. ›Entre Nous‹ und ›Different Strings‹ sind gewissermaßen zwei Teile desselben Konzepts. Sie sind wie Bruder und Schwester.“

Von ›Different Strings‹ abgesehen war Hugh Syme nicht nur im Le Studio, um die charismatischen Sonnenuntergänge zu genießen und das Lichtspiel auf dem See zu bewundern. „Neil und Hugh kümmerten sich immer um das Cover-Desin“, so Lee. „Ich denke, Hugh ließ sich inspirieren von dem, was er hörte und las. Er bekam Musikfragmente und Textblätter und holte sich so seine Bilder. Und es war offensichtlich, dass wir ein neues Kapitel aufgeschlagen hatten. Vergiss nicht, dies war eine Zeit, in der alle von der ‚New Wave‘ sprachen, es gab eine ‚neue Welle‘ im Pop und Rock. In gewisser Hinsicht ist der Titel jenes Albums ein Kommentar darauf und ein Wortspiel. Auf dem Cover sind all diese Wellenbilder und es ging um die Beständigkeit von Musik. Ohne großspurig klingen zu wollen, aber wir wollten wirklich zum Ausdruck bringen, dass diese neue Bewegung und neue Welle aufregend ist und so, aber der Rock’n’Roll immer da sein wird. Es wird verschiedene Wellen und verschiedene Stilrichtungen geben, aber er wird nie wirklich weggespült werden.“

„Neil und ich unterhielten uns den ganzen Abend darüber, wie Rush erwachsen geworden waren“, so Syme, „und wie wir während der Aufnahmen EKGs von jedem Mitglied machen würden. PERMANENT WAVES sollte also ein technisches Statement werden, und das würden wir mit roter und goldener Folie als nette Designstudie umsetzen statt mit einem Foto. Und dann – ich bin mir immer noch nicht sicher, warum – sagte ich: ‚Lasst uns doch etwas versuchen, wo ein Model aus einer Flutwelle heraus läuft‘. Neil sah mich mit diesem leeren Blick an und sagte: ‚Verzieh dich‘. Doch am nächsten Tag bat er mich, genau das in Betracht zu ziehen.“ Syme ließ sich nicht zweimal bitten. Er nahm ein Foto der Galveston Seawall in Texas während Hurrikan Carla 1961 als Hintergrund und montierte davor das kanadische Model Paula Turnbull, das sein Höschen zeigte und eine Dauerwelle trug, die aussah, als könnte sie selbst diesem Sturm standhalten. Hugh gab sich selbst eine Statistenrolle in dem Bild – und winkte fröhlich aus der Ferne. Auf einem regenumtosten Straßenschild wurden zudem die Nachnamen der Bandmitglieder zitiert. Der „Chicago Daily Tribune“ war erzürnt, dass im Vordergrund eine Ausgabe mit der berüchtigten Titelseite von 1948 herumwirbelte (als die Zeitung fälschlicherweise berichtete, Thomas Dewey habe in den US-Präsidentschaftswahlen Harry Truman geschlagen. Die Androhung rechtlicher Schritte führte dazu, dass diese Schlagzeile nach der allerersten Pressung nicht mehr zu sehen war.

Alles in allem also eine ziemlich deutliche Abkehr von Hirn und Hintern, die auf dem vorigen Album im Mittelpunkt gestanden waren. Man muss sich nur die Struktur und Form der sechs Songs auf PERMANENT WAVES ansehen, um zu verstehen, auf welcher Reise sich Rush mit ihrem neuesten Werk befanden. Ebenso wie Syme reichlich Spaß mit dem Artwork hatte, waren Rush fest entschlossen, sich aus einigen ihrer selbstauferlegten Fesseln zu befreien. „Das ist ekakt das, was wir beabsichtigt hatten“, so Lee. „Wir wollten etwas anderes machen. Auch die längeren Songs – und es gibt einige sehr wichtige längere Songs in unserer Geschichte. Aber da sind eben auch Stücke wie ›Natural Science‹ und ›Jacob‘s Ladder‹, und die verkörpern das, worum es mir geht. Sie sind ziemlich anders, zwar wiederum lange Konzepte, aber auf einen Zeitrahmen von zehn Minuten reduziert, statt das Konzept auf eine ganze Seite auszudehnen. Wir fanden nicht, dass ›Jacob‘s Ladder‹ genug Substanz hatte, um daraus eine Seite zu machen, weißt du? Und über die Jahre haben wir diesen Song immer mehr schätzen gelernt, hauptsächlich, weil unsere Fans ihn so ins Herz geschlossen haben.“

Will Geddy uns also sagen, dass er ursprünglich nicht viel von ›Jacob’s Ladder‹ hielt? Das ist, als würde Stephen King sagen, er möge keine Bücher über Horror. „Ha! Ich denke, es war für uns damals schwer zu sagen, wie anders es war“, antwortet Lee. „Zunächst spielten wir es auf den ersten beiden Tournee, aber dann eine ganze Weile nicht mehr. Wir verloren das Interesse daran. Aber es blieb ständig eines der fünf Stücke, die sich die Fans am meisten im Live-Set zurückwünschten. Dem widersetzten wir uns bis zur letzten R40-Tour, als wir es wieder spielten. Ich war wirklich nicht besonders angetan von dem Gedanken, es wieder zu bringen. Die anderen Jungs waren aber bereit dazu, und erst bei den Proben sagte ich dann: ‚Okay, jetzt erinnere ich mich wieder, was ich an diesem Song mochte. Also versetzte ich mich in diese Stimmung zurück. Und auf der letzten Tour machte es mir dann wieder einen Riesenspaß, es zu spielen. So ging es uns allen, es war eindeutig ein Highlight der Show. Es hat diese großartigen, gnadenlos klassischen Momente, die Rush-Fans so sehr lieben.“ Das Album und die Single ›Spirit …‹ ließen Rush die Charts hinaufklettern. Es wurde zu ihrer bis dato meistverkauften Platte und letztlich nur von seinem Nachfolger, MOVING PICTURES, übertroffen. „Ich denke, das Konzeptalbum-Ding zu begraben, war eine große Entscheidung“, so Lee. „Diesen ganzen Gedanken mal beiseite zu schieben und das Songwriting als eine Reihe einzelner Konzepte zu begreifen – gewissermaßen wie eine Serie kleinerer Filme, was dann zu MOVING PICTURES führte. Aus diversen Gründen floss die Energie von PERMANENT WAVES auch in MOVING PICTURES. Und dass PERMANENT WAVES auf so positive Resonanz stieß, gab unserem Selbstvertrauen einen großen Schub … Wann immer im Leben man etwas Neues versucht und es gut angenommen wird, ist das die größte Belohnung, die man bekommen kann.“

Lifeson stimmt Lee zu, was den Domino-Effekt betrifft, den PERMANENT WAVES für die Band in ihrer weiteren Karriere hatte. „Das ist wahr“, sagt er. „Genauso war das. MOVING PICTURES ist der niedliche, süße, fröhliche Spross von PERMANENT WAVES. Wir lernten viel über das Schreiben und wie wir am besten arbeiten müssen, um unsere Ziele zu erreichen, sodass ein ambitioniertes Album wie MOVING PICTURES entstehen konnten, ohne dass wir uns umbringen wollten.“ Dieser Drive war so stark, dass der Plan, ein Live-Album von ihrer bis dato erfolgreichsten Tournee zu veröffentlichen, begraben wurde, um stattdessen gleich wieder in die kanadische Provinz ins Le Studio zurückzukehren – einen Ort, der für mehr als ein Jahrzehnt immer wieder zu ihrem Zuhause werden sollte. „Es war geplant, nach PERMANENT WAVES dieses große Livealbum herauszubringen [letztendlich erschien es nach dem Erscheinen von MOVING PICTURES unter dem Titel EXIT STAGE LEFT], doch in letzter Minute sagten wir: ‚Wisst ihr was? Scheiß drauf, wir machen keinen Live-Mitschnitt, sondern gehen ins Studio, um unsere nächste Platte zu machen‘“, erinnert sich Lee. „Und so entstand MOVING PICTURES. Es ritt auf der Welle der Begeisterung, die wir bei der Arbeit an PERMANENT WAVES gefühlt hatten. Und es stellte sich als die wichtigste Entscheidung unserer Karriere heraus. Oder die zweitwichtigste. Die wichtigste war 2112, denn ohne 2112 gäbe es Rush nicht. Wenn man das Zickzack unserer Historie betrachtet, fingen wir als eine Art Heavy-Rockband an. Mit dem Einstieg von Neil und mit FLY BY NIGHT [1975] wurde uns dann klar, dass wir endlich ein progressiv denkendes drittes Mitglied hatten, was unsere Prog-Tendenzen bekräftigte. Deshalb sieht man, wie das, was wir auf FLY BY NIGHT begannen, auf 2112 seinen Höhepunkt erreichte. Und als wir unseren Stil gefunden hatten, entwickelten wir das weiter.

Auf HEMISPHERES erreichte dieser Stil seinen Schlusspunkt, also war es Zeit, sich wieder zu verändern. PERMANENT WAVES war in gewisser Hinsicht eigentlich der Beginn unserer dritten Phase. Die zweite war, als wir definiert hatten, wer wir sind und unsere eigene Stimme erschaffen hatten.“ Alex Lifeson und ich schwelgen in Erinnerungen, bevor unser Gespräch endet. Ich durfte mal mit Rush auf der Bühne stehen, als sie ›The Spirit Of Radio‹ spielten. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, wie ich mir diesen Song vor all den Jahren als Teenager als Single kaufte, und beide Ereignisse wecken in mir bis heute Begeisterung. „Ist es nicht großartig, dass dich das immer noch bewegt?“, sagt er. „So ist das eben. Ich habe so schöne Erinnerungen an diese Zeit, diese Songs zu hören, lässt sie mich immer wieder neu erleben. Ist das nicht umwerfend an Musik, wie sie bestimmte Phasen in deinem Leben definiert? Dass sie mich so bewegt und mich an eine Zeit vor 40 Jahren erinnert, und dass ich dabei so lächle wie jetzt, das ist ein großer Segen.“

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