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Rückblende: The Rolling Stones mit ›Let It Loose‹

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Rückblende: The Rolling Stones mit ›Let It Loose‹

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„Ich verstand hinterher nicht wirklich, worum es da ging“, sagt Texter Mick Jagger über einen Track auf EXILE ON MAIN ST., der die Band auf ihrem absoluten Zenit zeigt.

Ab dem packenden Riff von Keith gleich am Anfang, das verführerisch durch einen Leslie-Lautsprecher oszilliert, hebt sich ›Let It Loose‹, fast verborgen tief auf der dritten Seite des ausschweifenden Doppel-Vinyl-Meisterwerks EXILE ON MAIN ST. der Rolling Stones von 1972, von einem Großteil der begleitenden Songs ab. Es markiert den Beginn eines der gelungensten Ausflüge der Briten in gospelgefärbte Americana, definiert von der vorherrschenden Stimmung des vorangehenden Stücks ›I Just Want To See His Face‹. Dieser Swamp-Blues-Southern-Rock-Jam, der den Hörer direkt in die Kirche versetzt, klingt und fühlt sich an wie die Audio-Vérite-Feldaufnahme einer Messe der Erweckungskirche, entstand aber tatsächlich 1970 in den Olympic Studios in London mit Mick Jagger am E-Klavier, Mick Taylor am E-Bass, Bill Plummer am Kontrabass, Charlie Watts am Schlagzeug und Jimmy Miller als Percussionist. Erst zwei Jahre später kam Jagger dazu, bei „Sunset Sound“ in Hollywood improvisierten und leidenschaftlichen Leadgesang hinzuzufügen, und betonte die Stimmung der Nummer durch Backing-Vocals von Phil-Spector-Sessionveteranin Clydie King und Ex-Ikette Venetta Fields für eine Extraportion Authentizität. Der Hörer wähnt sich folglich am Ende von ›See His Face‹ schon bequem auf der imaginären Kirchenbank in freudiger Erwartung des Hauptereignisses. Und ›Let It Loose‹ enttäuscht nicht.

Für so einen wichtigen Track ist sein Ursprung nicht sehr klar definiert. „Ich glaube, Keith hat das geschrieben“, sagte Jagger und nannte es einen „sehr seltsamen, schwierigen Song. Ich hatte einen komplett anderen Text dafür, aber der wurde aufgegeben. Meiner Meinung hat dieses Lied nichts, was einer Bedeutung auch nur ähnelt. Das ist einer dieser ziellosen Songs. Ich verstand hinterher nicht wirklich, worum es da ging.“Und wie reagierte Keith darauf? „Ich würde Micks Erinnerung an irgendetwas nie besonders ernst nehmen“, sagt der.

Die Stones begannen die Arbeit an der Platte, die mal EXILE ON MAIN ST. werden sollte, mit nur ein paar Skizzen einer Handvoll existierender Songs. Das triumphale ›Shine A Light‹ war etwa schon zu Brian Jones’ Zeiten 1968 enstanden unter dem Titel ›(Can’t Seem) To Get A Line On You‹, ein Kommentar zum Absturz ihres rapide abbauenden Gitarristen in die hoffnunglose Drogenabhängigkeit. Der Löwenanteil des Materials wurde erst im Keller von Nellcôte ersonnen, Keith Richards’ seit Kurzem gemieteten Zuhause in Villefranche-sur-Mer in Frankreich.

„Das Album hieß EXILE, weil wir praktisch aus England verjagt worden waren“, erinnert sich Keith. Eine Kombination aus Belästigung durch die Polizei und dem drakonischen britischen Steuersystem hatte zu einem eiligen Umzug der Band nach Frankreich geführt. „Wir konnten abhauen oder Straßenkehrer werden“, übertreibt Keith lässig. „Ich würde sagen, etwa 90 Prozent von EXILE entstanden in dem verdammten Keller, und es wurde ein Doppelalbum daraus. Wir gingen da nicht rein und sagten: ‚Wir werden es ihnen zeigen und ihnen zwei auf einmal servieren.‘ Wir arbeiteten einfach, und es herrschte ein gewisser Kameradschaftsgeist: ‚Wenn wir das wirklich tun, sollten wir uns besser etwas einfallen lassen, um die Bastarde umzuhauen.‘ Außerdem führte es diesen Spruch ad absurdum, das Heim eines Engländers sei sein Schloss. Yeah? Nun, meines ist in Frankreich, Mann.“ Der ursprüngliche Instrumentaltrack von ›Let It Loose‹ entstand in diesen langen Kellersessions in Nellcôte im Oktober 1971. In einer bluesig-schizophrenen Kombination aus D und G verwurzelt, gab Keith auf der ersten Fassung den Pops Staples zu Nicky Hopkins’ Mellotron, begleitet von einem gemäßigten, aber tighten Watts/Wyman-Rhythmusgroove und Bläserparts von Bobby Keys (Saxofon) und Jim Price (Trompete und Posaune). Ein wenig überzeugender Slide-Overdub von Mick Taylor schaffte es nie auf EXILE, nachdem der Song schließlich zwischen Dezember 1971 und März 1972 bei Sunset Sound Recorders in Los Angeles fertiggestellt worden war.

Als Erweiterung der Ensemble-Gospelparts von ›I Just Wanna See His Face‹ bediente sich ›Let It Loose‹ bei einem virtuellen Chor aus überragenden Stimmen. Diesmal schlossen sich Clydie King und Venetta Fields auch noch Tamiya „Tami“ Lynn (die mit ›I’m Gonna Run Away From You‹ gerade einen Northern-Soul-Crossover-Hit in Großbritannien gelandet hatte), Shirley Goodman (einst bei Shirley And Lee, die 1956 eine erfolgreiche Version von ›Let The Good Times Roll‹ veröffentlicht hatten und später als Shirley & Company mit ›Shame, Shame, Shame‹ zu Discoruhm kommen sollten), Sopran-Sessionveteran Joe Greene (der Band schon durch seine Arbeit mit Billy Preston bekannt) und die renommierte New-Orleans-Legende Dr. John an, der außerdem noch einen sehr charakteristischen Klavierpart beisteuerte.

Und doch ist der wirkliche Star auf ›Let It Loose‹ letzten Endes Mick Jagger, der hier eine seiner besten Gesangsleistungen überhaupt abliefert. Sensibel, aber energisch, maßvoll, aber leidenschaftlich, ist dies ein Paradebeispiel für seinen einzigartig stilisierten, unverkennbaren, aber fast schon absurd unterbewerteten Modus Operandi. Von der schwelgenden Soul-Verführung am Anfang, über das herzsprengende Crescendo im Mittelteil, das sich gnadenlos (und atemlos, dank Richards’ zackig-knackiger Arpeggio-Gitarre) aufbaut, bis hin zu einer krönenden Chor-Coda, garantiert er diesem Song den Status als unleugbarer Stones-Klassiker. Der Text mag nicht unbedingt als Poesie durchgehen, und Tiefgang nicht die Stärke dieser Nummer sein, doch Jagger verkauft jede einzelne Silbe mit so überzeugender Hingabe, dass die Zeile „Let it all come down“ fast die Gravitas von „I have a dream…“ anzunehmen scheint.

Der inhärente Zauber von ›Let It Loose‹ liegt aber tatsächlich in seiner Atmosphäre. Das unbestimmte Ganze erhebt sich weit über die Summe seiner einzelnen Teile, ob diese nun „Schlafzimmer-Blues“, fünf Ausgestoßene auf einer Welle aus Bourbon in einem Keller, Texas-Bläser oder ein Gospelchor seien. ›Let It Loose‹ ist schlicht und einfach der Klang einer Band, die sich auf dem Zenit ihres Könnens befindet und Americana komplett verinnerlicht hat.

EXILE war das, was wir aus zehn Jahren des Tourens in Amerika gelernt hatten“, sagt Keith. „Vorher kannten wir es nur von Platten, dort lernten wir es vor Ort. Wir saugten einfach die amerikanische Kultur auf. Und uns wurde klar, dass sie, you know, britische Männer lieben… [ein Augenzwinkern]. Wenn man es richtig macht.“

(Aus CLASSIC ROCK#83)

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