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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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Du spielst auch Charity-Konzerte in verschiedenen Kirchen in Europa und England. Das ist schon erstaunlich für jemanden, der als Kind Angst vor Kirchen hatte.
Mir gefällt der Gedanke, dass wir etwas dazu beitragen, dass gewisse Institutionen und Traditionen konserviert werden, auch wenn wir nicht zwingend gläubig sind. Ich kann mich nicht als Christen bezeichnen, aber ich habe natürlich eine starke Verbindung zum Christentum. Ich bin nun mal damit aufgewachsen. Ich habe große Ehrfurcht vor Kathedralen und Kirchen. Wenn ich an diesen Orten auftrete, versuche ich den schmalen Grat zwischen Kirchenmusik und der Musik, die ich mache, zu finden. Das wird manchmal etwas brenzlig, wenn manche der Texte die Grenzen etwas austesten, aber es ist noch nie jemand aufgestanden und gegangen. Das Publikum versteht das. Wir versuchen ja nicht,
irgendwen zu missionieren, wir versuchen lediglich, etwas Geld einzunehmen, um das Kirchendach zu reparieren. Manchmal, wenn ich neue Leute kennenlerne, sage ich, dass ich für die Church of England arbeite. Das ist einfacher, als zu erklären, dass ich in einer Rockband Flöte spiele, weil vor allem junge Menschen keinen blassen Schimmer von Jethro Tull haben.

Einige deiner kraftvollsten Songs drehen sich um Religion. Allen voran ›My God‹ auf AQUALUNG.
›My God‹ war so eine Nummer, über die sich die Menschen im Bibelgürtel der USA so richtig aufregten, weil sie die Botschaft falsch verstanden. Aber damals wie heute gab und gibt es sogar Priester, die mir erzählen, dass sie genau wissen, über was ich in dem Song spreche. In den 70ern wurden einige unserer Nummern, die sich um Religion drehten, in Italien und Spanien verboten. Heute ist ›My God‹ der beliebteste und bekannteste Jethro-Tull-Song in Italien.

Wo stehst du heute in diesem Spannungsfeld?
Ich habe keinen Glauben, ich glaube an Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Ich habe keine Zeit für Gewissheiten. Gewissheiten sind zu nah am Wahn. Ich denke, dass Jesus von Nazareth ein leicht radikaler, aufmüpfiger jüdischer Prophet war. Ich glaube nicht an Jesus Christus. Ich glaube an die wundervolle Geschichte der Bibel, an die ethischen Ansätze, aber ich habe keinen Glauben. Bei einer Agnostizismus-Skala von eins bis zehn kannst du mich bei einer 6,5 einordnen. Ich bewege mich in Richtung „Vielleicht könnte ja irgendwas dran sein“, aber ich dränge mich selbst nicht dazu, mir da eine klare Meinung zu bilden. Frag mich nochmal auf meinem Sterbebett, vielleicht rufe ich dann doch nach einem Priester. Aber gerade ist es in Ordnung, wie es ist. Ich habe ein wackliges Knie, aber mir geht es gut. Und am Ende ist diese Diskussion zwischen gläubig und ungläubig ein bisschen wie die Diskussion zwischen Boris Johnsons sehr rechter Conservative Party und Corbyns sehr linker Labour Party. Eine scharfe Abtrennung – und ich bin jemand, der instinktiv in den meisten Lebensbereichen eher die Mitte einnimmt. Deswegen bin ich auch absolut kein gutes Modell für den archetypischen Rockmusiker.

Sagst du jetzt, obwohl du eine Traumkarriere hinter dir hast. Du hattest riesigen Erfolg und wurdest 2008 wegen deiner Verdienste für die Musik zum MBE („Member Of The Order Of The British Empire“; Anm. d. Red.) erhoben. Was bedeutet dir das?
Das ist jetzt sehr respektvoll gemeint: Ich nenne das auch gerne den Postboten-Award, einfach, weil viele unbesungene Helden des alltäglichen Lebens zu MBEs erhoben werden. In diesem Ehrensystem ist es ja so: Je höher man aufsteigt, desto zynischer wird man oft denen gegenüber, die den Ritterschlag erhalten, weil da ein Haufen Kohle eine Rolle spielt. Aber der MBE-Rang repräsentiert wirklich tolle Mitglieder der Gesellschaft und ich bin absolut zufrieden damit, für meine Dienste an der Musik geehrt zu werden.

1989 hast du mit Tull einen anderen Award abgeräumt: Den Grammy in der Kategorie „beste Hardrock/Metal Performance“. Das kam überraschend, weil Metallica als absolute Favoriten gehandelt wurden. Warst du damals belustigt oder überrascht?
Ich hätte nicht gedacht, dass wir einen Grammy gewinnen würden, weswegen ich überrascht und darüber hinaus belustigt war, dass wir in dieser Kategorie nominiert worden waren. Unsere Plattenfirma hatte uns zuvor noch gesagt: „Die Grammys könnt ihr euch sparen. Metallica gewinnen sowieso“. Ich glaube, wir haben den Grammy nur gewonnen, weil wir ein paar nette Typen sind, die noch nie zuvor einen bekommen haben. Und es gibt eben keinen Preis für den weltbesten einbeinigen Flötenspieler, sonst hätte ich schon einige Kaminsimse dazukaufen können, um all den Trophäen Platz zu machen.


Gibt es Hoffnung auf eine Reunion mit den Überresten der alten Band?
Das wäre schon eine schrecklich überfüllte Bühne. Und viele dieser Mitglieder haben seit Jahren nicht mehr gespielt. Das ist nicht so einfach. Außerdem habe ich diesen Gedanken schon immer mit gemischten Gefühlen betrachtet, denn wenn du über „die alte Band“ sprichst, wen meinst du da? Ich möchte da niemanden bevorteilen, weil ich auch keine Lieblinge habe.

Du sagst, dass Jethro Tull solange weiterleben, wie du die Musik der Band da draußen spielst …
Wenn ich nur Songs von Jethro Tull spiele, spüre ich, dass es auch Jethro Tull ist. Wenn du vor ein, zwei Jahren bei Wikipedia geschaut hast, stand da „Jethro Tull waren …“. Jetzt ist diese Vergangenheitsform weg, weil die Menschen verstanden haben, dass es Tull noch immer gibt. Jethro Tull ist auch nicht mehr oder weniger beendet als die Beatles. Die verkaufen immer noch Millionen von Platten und Downloads. Das Tolle an der Welt des Entertainments ist ja, dass deine Arbeit dich überdauern kann.

Und wenn du Bilanz ziehst, bist du zufrieden mit deinem Schicksal? War das Leben gut zu dir?
So fühle ich mich seit Langem. Ich sage gerne im Spaß – aber es steckt auch viel Wahrheit darin –, dass das Aufwachen am Morgen heute mein liebstes Hobby ist. Ich wache gerne alle 24 Stunden morgens auf. Das ist ein tolles Ziel. Und das erste, das ich verspüre, wenn ich aufwache, ist Dankbarkeit.

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