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Rückblende: Bob Dylan – ›Visions Of Johanna‹

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Rückblende: Bob Dylan – ›Visions Of Johanna‹

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Der größte aller Songwriter hat Geburtstag. Fast zeitgleich jährt sich das Erscheinen seines vielleicht besten Albums BLONDE ON BLONDE. Es war nicht zuletzt ein Song daraus, der ihn zum Vorzeigepoeten der Rockmusik machte.

Mittlerweile ist er fast zum Allgemeinplatz geworden, der berühmte Satz von Bruce Springsteen, demzufolge Bob Dylan in eben dem Maße den Geist befreit hat wie Elvis zuvor den Körper. Ein Song, der dafür einsteht wie kaum ein anderer, ist das 1966 erschienene ›Visions Of Johanna‹ – eine fiebrige siebeneinhalbminütige Ballade über Isolation, Sprach- und Ratlosigkeit, Kälte, Liebessehnsucht und diese mysteriösen Visionen.

Dabei lief es zunächst gar nicht so, wie Dylan sich das vorstellte, Ende 1965, als er mit den Aufnahmen zu seinem siebten Album BLONDE ON BLONDE begonnen hatte. Im selben Jahr waren BRINGING IT ALL BACK HOME und HIGHWAY 61 REVISITED herausgekommen. Meilensteine, was Songwriting und Attitüde betrifft. Der erst 24-jährige Musiker hatte sich von seinen Wurzeln in der Folk-Protestkultur emanzipiert, hing jetzt in Andy Warhols Factory ab. Fortan war funkensprühender elektrifizierter Sound angesagt, in LSD-induzierten, wahnwitzigen Songs wie ›Subterranean Homesick Blues‹, ›Ballad Of A Thin Man‹ oder ›Like A Rolling Stone‹, die vor lauter Verweisen auf Literatur, Kunst und Popkultur zu explodieren drohten. Dylan war zum New Yorker Großstadthipster geworden – samt verspiegelter Sonnenbrille, wildem Lockenkopf und hautengen Anzügen.

In New York sollten auch die Aufnahmen zu BLONDE ON BLONDE stattfinden, zusammen mit den Hawks, einer kanadischen Truppe um den Gitarristen Robbie Robertson, die Dylan schon auf Tour begleitet hatte. Es entstanden zahlreiche verschiedene Versionen der Stücke, die schließlich auf Platte landen sollten – zur Albumreife brachte es aber nur ›One Of Us Must Know (Sooner Or Later)‹. Dylan gelang es nicht, diesen speziellen, schillernd metallischen Klang zu erreichen, den er im Kopf hatte, diesen, wie er selbst ihn nannte: „Thin, wild mercury sound.“ Von ›Visions Of Johanna‹ wurden in New York vierzehn Fassungen aufgenommen. Keine aber schien die Atmosphäre einzufangen, nach der der Song verlangte.

Auf Anraten seines Produzenten Bob Johnston ging Dylan zusammen mit Robertson und dem Organisten Al Kooper nach Nashville. Ausgerechnet in die konservative Countryhochburg, in die der New Yorker Popstar so gar nicht zu passen schien. Doch der fand offenbar Gefallen daran, dem Rummel um seine Person ein wenig zu entkommen – zumal er auf die Dienste einiger der besten Nashville-Sessionmusiker der damaligen Zeit zurückgreifen konnte, darunter Alleskönner Charlie McCoy und Schlagzeuger Kenny Buttrey.

„Die einzelnen Figuren hängen wie lose im Raum, alle wirken sie orientierungslos. Jede Unterhaltung bleibt kryptisch.“

„Ich sagte einfach jedem der Musiker, er sollte nur das spielen, was notwendig ist“, erklärte der im vergangenen Jahr verstorbene Johnston einmal. „Denn ich könnte ihnen nicht gestatten, für Overdubs ins Studio zurückzukehren.“ Die Musiker hielten sich dran – und in einem einzigen Take war ›Visions Of Johanna‹ im Kasten, am Valentinstag 1966. „Wir spielten einfach instinktmäßig“, erinnert sich Robertson an die BLONDE ON BLONDE-Sessions. In Nashville schafften es Dylan und seine Gefährten endlich, diese lakonisch karge und dennoch lebendige musikalische Atmosphäre zu erzeugen, nach der sie suchten. „Es ist dieser klare, lebhafte, flüssige und wilde Klang – wie Quecksilber“, so Dylan in einem Interview von 1978. „Ein metallischer Klang, leuchtend wie Gold, mit einer großen bildmächtigen Kraft.“

Die gespenstische Orgel, die klagende Mundharmonika nach jedem Refrain, die metallische Gitarre scheinen das Sentiment von ›Visions Of Johanna‹ perfekt einzufangen. „Es ist leichter, sich abzukapseln, als Kontakt aufzunehmen“, bekannte Dylan Ende 1965. „Ein großes Halleluja an alle, die miteinander verbunden sind, das ist schön. Ich kann das nicht.“ Es ist nicht zuletzt dieses Gefühl der Isolation, um das es im Stück geht. Um eine Ratlosigkeit dem Leben gegenüber, darum, in einer Sackgasse gefangen zu sein. Gleich die ersten Verse machen das klar: „Ain’t it just like the night to play tricks when you’re trying to be so quiet?/We sit here stranded, though we’re all doin‘ our best to deny it.“ Gestrandete in einer nächtlichen Großstadtszenerie. Der Erzähler ebenso wie die zerbrechliche, verführerische Louise, der Hausierer, der kleine verlorene Junge, der Nachtwächter, und wie sie alle genannt werden. Ein ganzes Ensemble an Figuren tritt auf, von denen sich jedoch keine wirklich um die andere zu kümmern scheint.

Die einzelnen Figuren hängen wie lose im Raum, alle wirken sie orientierungslos. Jede Unterhaltung bleibt kryptisch. Der verlorene Junge murmelt gegen eine Wand, anstatt mit dem Erzähler-Ich zu sprechen. Countrymusik dudelt vor sich hin, unsterbliche Gemälde hängen tot in Museen, die Madonna zeigt sich nicht. Alles ist sinnlos, unzusammenhängend. Wie in einem explodierenden Bewusstsein, das die Wirklichkeit nicht mehr fassen, nicht mehr ordnen kann. Dylan nutzt Methoden des Surrealismus ebenso wie das postmoderne Erzählverfahren der Neukombination von Textfragmenten, um dieses quasi halluzinatorische Zerfallen der Wahrnehmung erlebbar zu machen.

Was bleibt dem Erzähler-Ich am Ende? Es sind die titelgebenden Visionen von der mysteriösen Johanna. Dylan stellt sie der anderen großen Frauenfigur gegenüber: „Louise, she’s all right, she’s just near/She’s delicate and seems like the mirror/But she just makes it all too concise and too clear/That Johanna’s not here.“ Louise scheint sexuell verfügbar, sie ist körperlich anwesend, Johanna ist abwesend, sie ist die einzige, die außerhalb der beschriebenen desillusionierenden Realität steht. Sie dient dem Protagonisten als Ideal, womöglich als Inbegriff erfüllter Liebe und Sinnhaftigkeit, auf jeden Fall steht sie für ein vermeintliches Entkommen aus der als grausam empfundenen Wirklichkeit. Zugleich verfolgen, ja quälen den Erzähler seine Visionen, weil sie eben bis zum Ende das bleiben, was sie sind: Visionen. Ein echter Ausweg aus seinem unverstandenen Dasein sind sie nicht.

Dylan liefert in ›Visions Of Johanna‹ eine seiner stärksten Gesangsleistungen überhaupt ab. Da ist natürlich seine typische schneidende Coolness, mit der er die einzelnen Silben dehnt. Zugleich meint man, die ganze Verzweiflung, das quälende Gefühl der Langeweile, der Melancholie und des Verlassenseins zu hören, von dem der Song handelt.

Es ist unmöglich, den rätselhaften Text komplett zu entschlüsseln. Schon gar nicht lässt sich eine sogenannte „Message“ herausdestillieren. ›Visions Of Johanna‹ dreht sich um eine Stimmung des Gestrandetseins. Ist Liebe real oder eine Illusion? Muss das alles so zerrissen sein? Warum fühlen wir uns so einsam? Ist es möglich, unsere Isolation zu überwinden, Kontakt aufzunehmen, das Leben als sinnvoll zu begreifen? Letztendlich läuft alles auf die eine große Frage hinaus: Wie geht das Leben?

Text: David Numberger

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