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Werkschau: Standardzeit

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Werkschau: Standardzeit

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Über die vergangenen 50 Jahre hinweg haben sich zahlreiche Rockstars an den großen amerikanischen Standards versucht. Aber welche lohnen ein genaueres Hinhören?

„Rock’n’Roll riecht verlogen und falsch“, sagte Superstar Frank Sinatra Ende der 50er. „Er wird
größtenteils von idiotischen Rowdys gesungen, gespielt und geschrieben.“ 30 Jahre später fühlte er sich womöglich bestätigt, als einige dieser idiotischen Rowdys anfingen, seine Art von Musik zu covern. Es gab in den 60ern zwar schon ein paar frühe Beispiele, etwa The Supremes und Aretha Franklin, doch das Phänomen, dass Rock- und Popsänger Alben mit Standards aufnahmen, begann – wie so vieles – mit den Beatles. Und ausgerechnet der Beatle, den man am wenigsten qualifiziert gehalten hätte, große amerikanische Songwriter wie Cole Porter und Johnny Mercer zu interpretieren, brachte diesen Trend ins Rollen. Ringo Starrs Solodebüt SENTIMENTAL JOURNEY (1970) löste zwar nicht unbedingt eine Flutwelle aus, doch es wurde zur Blaupause für sämtliche „Great American Songbook“-Projekte, die folgen sollten.

Ein Jahrzehnt später wurde das Konzept „Zeit für Standards“ dank Linda Ronstadts Grammys abräumender Albumtrilogie aus WHAT’S NEW, LUSH LIFE und FOR SENTIMENTAL REASONS zu einem beliebten Karriereschritt. Warum aber alte Klassiker covern, die eine vorangegangene Generation von Sängern berühmt gemacht hatte? Erstens: Sie sind zeitlos. Ausgeklügelt, melodisch, voller Herz, aber auch wandelbar genug, um auf viele verschiedene Weisen interpretiert zu werden. Zweitens können Sänger*Innen so in Würde altern und ihre stimmlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen, während sie zudem noch ein ganz neues Publikum ansprechen. Man halte sich zum Beispiel vor Augen, dass Rod Stewarts IT HAD TO BE YOU von 2002 das erste Nr.-1-Album des Sängers seit 1979 war. Und drittens ist es die Bestätigung, dass gute Musik ein Kontinuum ist, keine Sammlung gegensätzlicher Stilrichtungen. Über die Jahre hinweg waren die erfolgreichsten Ausflüge Richtung Songbook stets jene, bei denen die Interpreten eine Geschichte und emotionale Verbindung zu dem Material hatten. Man kann hören, dass
Harry Nilsson, Paul McCartney und Brian Wilson die Standards nicht nur kannten, sondern deren Einflüsse auch in ihre eigene Arbeit eingebaut hatten.

Ein sensibler Arrangeur wie Nelson Riddle oder Quincy Jones ist ebenfalls unerlässlich, um den passenden Swing und Esprit einzufangen. Sängerinnen wie Carly Simon und Cyndi Lauper schlugen sich auf solchen Alben achtbar, doch die Arrangements litten bisweilen an der Farblosigkeit von Fahrstuhlmusik. In jüngerer Vergangenheit gab es kaum noch solche Werke, doch es werden sicher
wieder mehr davon kommen. Oder, wie es in einem dieser geliebten Standards so schön heißt: „Moonlight and love songs, never out of date“.

Unverzichtbar

Harry Nilsson, A LITTLE TOUCH OF SCHMILSSON IN THE NIGHT (RCA 1973)

Harry Nilsson A little touch

Als Nilsson ankündigte, dieses Album machen zu wollen, flehte sein Label ihn an, es bleiben zu lassen, und sein Produzent weigerte sich, daran mit ihm zu arbeiten. Es galt als Karriere-Selbstmord. Doch Nilsson bestand darauf. Und sein engelsgleicher Tenor hauchte Standards wie ›What‘ll I Do‹ und ›Makin‘ Whoopee‹ neues Leben ein. Er engagierte Sinatras Arrangeur Gordon Jenkins, um den verwobenen Songzyklus zu konstruieren. Nach Nilssons atemberaubender Fassung von ›Somewhere Over The Rainbow‹ bei einem Live-Konzert-Special der BBC sah Jenkins ihn an und sagte: „Jetzt glaube ich“. Eine wohlverdiente Segnung von dem Mann, der mit „The Voice“ zusammengearbeitet hatte.

Paul McCartney, KISSES ON THE BOTTOM (HEAR MUSIC 2012)

In Würde zu altern ist nicht leicht, erst recht nicht für Rocklegenden. Paul McCartney feierte seinen 70. Geburtstag mit einer Platte, die in seinen Worten von „Erinnerungen und dem Singen mit der Familie“ inspiriert war. Macca arbeitete hier mit Produzent Tommy Lipurna sowie Diana Krall zusammen, die die üppigen, zartfühlenden Arrangements schrieb, und trat aus dem Beatle-Modus heraus, um eine verletzliche, zerbrechliche Version von sich zu präsentieren. McCartney lieferte dabei Songs mit einer Intimität und Tiefe ab, wie er es seit 30 Jahren nicht mehr getan hatte. Zu den Highlights gehören ›The Glory Of Love‹ und ›The Inch Worm‹, während seine Eigenkomposition ›My Valentine‹ sich als neuer Standard nahtlos einfügt.

Wunderbar

Ringo Starr, SENTIMENTAL JOURNEY (APPLE 1970)

Drei Jahre vor Nilsson wurde Ringo zum ersten Rockstar, der in der Nostalgie der Swing-Ära schwelgte. Ein All-Star-Ensemble von Arrangeuren, darunter George Martin, Quincy Jones und Elmer Bernstein, sorgten für die Bläserstöße und den Streicherzucker, doch es war Ringos typischer Charme, der die Sache rund machte. Sein bodenständiges Croonen riss den modrigen Frack von Gassenhauern wie ›Bye Bye Blackbird‹ oder ›Stardust‹ und steckte sie stattdessen in Jeans und Cord.

Linda Ronstadt, LUSH LIFE (ASYLUM 1984)

Linda Ronstadt sagte, sie wollte „diese Songs davor retten, für den Rest ihres Lebens in Fahrstühlen auf und ab zu fahren“. Über drei aufeinanderfolgende Alben tat sie das und erhob das Konzept von Rockstars, die Standards interpretieren, zu einem lukrativen und respektierten Geschäft. Teil 2 ihrer Trilogie ist der stärkste mit so euphorischen wie einfühlsamen Fassungen von ›Skylark‹, ›Mean To Me‹ und ›I’ve Got A Crush On You‹. Ihr Retro-Trip ist so überzeugend, weil sie nicht nachzuahmen versucht, sondern einfach nur sie selbst bleibt.

Brian Wilson, REIMAGINES GERSHWIN (DISNEY, 2010)

Was, wenn Brian Wilson im New York der 20er statt im Kalifornien der 60er groß geworden wäre? Sein Cover-Album mit Songs eines gleichgesinnten Komponisten beantwortet diese Frage. Höchst ambitioniert denkt diese Platte Gershwin tatsächlich neu und verschmilzt ihn mit Wilsons eigener, unverwechselbarer DNA, um eine Art generationsübergreifenden Mash-up zu erschaffen. ›They Can‘t Take That Away From Me‹ ist bereit fürs Surfbrett. Ein sträflich übergangenes Juwel in Wilsons Spätwerk.

Joni Mitchell, BOTH SIDES NOW (REPRISE, 2000)

Auf ihrer opulent orchestrierten 12-Song-Suite zeichnet Joni Mitchell eine Beziehung nach, vom Flirten über den Vollzug bis zur Desillusionierung und der anschließenden Akzeptanz. Ihre Stimme, auf ihrem eigenen Material so idiosynkratisch in Ton und Phrasierung, erweist sich als überraschend anpassungsfähig. Und etwas an der Direktheit einiger dieser Nummern entlockt ihr tiefere emotionale Nuancen. Eine Platte, die eine nachdenkliche Stimmung aufrecht erhält, wie das sonst nur Sinatras besten Konzeptalben gelang.

Anhörbar

Jeff Lynne, LONG WAVE (FRONTIERS, 2012)

Jeff Lynnes Signature Sound ist so unverwechselbar, dass diese Standards wie Fanlieblinge aus dem ELO-Backkatalog klingen. Bei wiederholtem Hören wird aber deutlich, wie die großen Songschmiede von gestern, etwa Rodgers & Hammerstein (›If I Loved You‹), Charles Aznavour (›She‹) oder Warren & Gordon (›At Last‹), Lynne mit den dissonanten Kontrapunkten und inspirierten Wendungen versorgten, die zu den Säulen seines eigenen Stils wurden. Spektakulär: Lynnes rührende Version von Charlie Chaplins ›Smile‹.

Glenn Frey, AFTER HOURS (UNIVERSAL, 2012)

Glenn Frey war eindeutig ein Fan des Nat King Cole Trios, denn er stellte gleich drei von dessen bekanntesten Hits an den Anfang seines Albums. Er mag nicht Coles Talent besessen haben, eine Band zum Swingen zu bringen, doch er verfügte über eine ähnliche Entspanntheit, die ihn diese Songs ohne jegliche Prätention interpretieren ließ. Die Tatsache, dass dies Freys letzte Aufnahmen vor seinem viel zu frühen Tod 2016 sind, verleiht ihnen eine zusätzliche Eindringlichkeit, vor allem dem Titelstück mit seinem Thema der Sterblichkeit.

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